MARKTMISSBRAUCHSVERORDNUNG (MMVO / MAR)

 


Ad-hoc-Publizität

 

1) Ziele der Ad-hoc-Pflicht 

Die Pflicht zur Ad-hoc-Publizität gemäß Art. 17 Abs. 1 MMVO sieht vor, dass ein Emittent Insiderinformationen, die ihn unmittelbar betreffen, den übrigen Marktteilnehmern (der breiten Kapitalmarktöffentlichkeit) unverzüglich zur Verfügung stellt. Primärer Zweck der Ad-hoc-Publizität ist der Markt- und Aktionärsschutz. Die Ad-hoc-Publizität gestaltet den Kapitalmarkt für Anleger transparenter, wodurch das Vertrauen in den Markt gestärkt sowie eine effiziente Preisfindung gewährleistet wird. Die Ad-hoc-Publizität unterbindet dadurch verbotene Insidergeschäfte und flankiert das Verbot des Insiderhandels. 

Der individuelle Anlegerschutz ist dagegen zwar nicht als Ziel im Sinne der Ad-hoc-Publizität intendiert. Jedoch wird er durch den Schutz des Marktes mittelbar als Nebenfolge erzeugt. 

Vor diesem Hintergrund erklärt sich auch das Merkmal der "unmittelbaren Betroffenheit" der Insiderinformation. Allein die Existenz dieses Merkmals zeigt an, dass nicht jede Insiderinformation (nach Art. 17 Abs. 1 MMVO) ad-hoc-publizitätspflichtig ist. Nur diejenigen Insiderinformationen, die die Informations-, Bewertungs- und Allokationseffizienz am Markt steigern, müssen publiziert werden. Für die Bewertung einer solchen, durch die Information erzeugten Effizienzsteigerung ist der Emittent der cheapest cost avoider. Er kann die potentielle Kursrelevanz der betreffenden Information mit den geringsten Kosten abschätzen. Liegt sie im Einzelfall vor, ist diese ad-hoc-publizitätspflichtig.

Zu beachten ist aber die Konsequenz einer nur mittelbaren Betroffenheit. Die Insiderinformation ist zwar im Einzelfall nicht ad-hoc-publizitätspflichtig. Dennoch unterliegt sie sodann dem Insiderverbot.


2) Verhältnis der Ad-hoc-Publizität zu anderen Publizitätspflichten

Die Ad-hoc-Publizität ergänzt weitere kapitalmarktrechtliche Publizitätspflichten (z.B. Regelpublizität, Transparenz- und Offenlegungspflichten). Sie ist aufgrund ihrer besonderen marktmissbräuchlichen Ausrichtung grundsätzlich neben anderen Publizitätspflichten parallel anzuwenden. 


3) Adressat der Ad-hoc-Pflicht

Als Adressat der Ad-hoc-Pflicht ist der Emittent anzusehen. Ist der Emittent eine Konzerngesellschaft, trifft nur sie die Ad-hoc-Pflicht, nicht auch die anderen mit dem Emittent verbundenen Unternehmen, es sei denn, diese sind ebenfalls Emittenten i.S.d. Art. 17 MMVO und die in Rede stehende Insiderinformation betrifft auch diese unmittelbar. 

Das bedeutet zugleich, dass der Vorstand nicht selbst persönlich Adressat der Pflicht ist. Allerdings ist er im Rahmen seiner Leitungspflicht für die Veröffentlichung zuständig und insoweit verpflichtet. Erfüllt der Vorstand diese ihm obliegende Pflicht nicht, haftet er nach § 93 AktG gegenüber der Gesellschaft und kann zudem ordnungswidrigkeitenrechtlich nach §§ 9, 130 OWiG belangt werden. 

Im Falle einer Insolvenz des Emittenten ist die Rechtslage umstritten. Weil die speziellere Norm des § 24 WpHG nur von der unterstützenden Funktion des Insolvenzverwalters neben dem Vorstand spricht, ist zur Auslegung die allgemeinere Norm des § 80 InsO zu Rate zu ziehen: Der Insolvenzverwalter wird nicht zum Organ der Gesellschaft. Für die Veröffentlichung von Ad-hoc-Pflichten ist er aber trotz fehlender Organstellung insoweit verpflichtet, wie diese die von ihm verwaltete Masse betrifft. 


4) Praktisch bedeutsame Fallgruppen für ad-hoc-publizitätspflichtige Informationen

Die nachfolgende Auflistung kann aufgrund der Fülle an Möglichkeiten nicht abschließender Natur sein. Es bedarf stets einer Prüfung des Einzelfalls, ob eine Veröffentlichungspflicht gegeben ist. Exemplarisch seien genannt:

a) Kapitalmaßnahmen

Soweit Informationen unmittelbaren Emittentenbezug aufweisen, präzise und kurserheblich sind, begründen Kapitalerhöhungen und Kapitalherabsetzungen eine Ad-hoc-Publizitätspflicht. Ungeachtet noch anderweitiger relevanter Zeitpunkte, besteht eine Veröffentlichungspflicht zum Zeitpunkt des Hauptversammlungsbeschlusses.

b) Rechtsverstöße

Denkbar sind auch Rechtsverstöße (Complianceverstöße) als zu veröffentlichende Insiderinformationen. Insbesondere bei Straftaten von Gesellschaftsorganen im Kreise ihrer Organtätigkeiten könnte eine Ad-hoc-Publizitätspflicht gegeben sein. 

c) Personelle Veränderungen

Auch personelle Veränderungen können eine ad-hoc-publizitätspflichtige Insiderinformation sein. Dies ist besonders dann der Fall, wenn es um organschaftliche Schlüsselpositionen (z.B. Vorstandsvorsitzender) geht. 

Zu beachten ist in diesem Rahmen zugleich die "Geltl" Rechtsprechung des EuGH: Personelle Veränderungen erstrecken sich beim Emittenten über mehrere Zwischenschritte. Diese Zwischenschritte können schon selbst - und nicht erst der Abschluss der personellen Veränderung - bereits ad-hoc-publizitätspflichtig sein. Ob dies bei solchen sog. gestreckten Sachverhalten der Fall ist, unterliegt stets einer Einzelfallprüfung. Beispielsweise kann die Kundgabe eines Vorstandsmitglieds über sein Ausscheiden zum Aufsichtsrat eine zu veröffentlichende Insiderinformation sein; die Information ist nicht öffentlich bekannt, sicher und kursrelevant. 

d) Vorabveröffentlichung von Finanzinformationen und Prognoseänderungen

Bestehen bei Finanzkennzahlen im Vergleich zu denselben aus vorangegangenem Zeitraum erhebliche Abweichungen oder entsprechen sie im bedeutenden Umfang nicht den zuvor bekannt gemachten Prognosen, begründet dies regelmäßig eine Insiderinformation. Sie ist dann ad-hoc-publizitätspflichtig.


5) Selbstbefreiung 

Von der Pflicht zur Ad-hoc-Publizität ist der Emittent nach Art. 17 Abs. 4 MMVO so lange befreit, wie es der Schutz seiner berechtigten Interessen gebietet, keine Irreführung der Öffentlichkeit zu besorgen ist und die Geheimhaltung dieser Informationen sicherstellt. Dieser Befreiungstatbestand ist nicht von der Genehmigung der Aufsichtsbehörde abhängig. Insofern spricht man auch von "Selbstbefreiung". Für die Praxis ist zu beachten, dass die "Selbstbefreiung" nicht kraft Gesetzes eintritt, sondern einen entsprechenden (einzelfallbezogenen) Beschluss verlangt.  

Fallen jedoch die gerade genannten Voraussetzungen zur Selbstbefreiung weg, lebt die Ad-hoc-Publizität wieder auf. Die Veröffentlichung der Insiderinformationen nach Art. 17 Abs. 1 MMVO ist sodann unverzüglich vorzunehmen.

Auch in anderen Fällen ist die Selbstbefreiung von der Ad-hoc-Publizität möglich: Hierzu zählt der Publizitätsaufschub im Interesse der Öffentlichkeit an der Finanzmarktstabilität nach Art. 17 Abs. 5, 6 MMVO, der zwingende Aufschub zum Schutz individueller Interessen des Betroffenen und im Falle von unsicherer, jedoch ad-hoc-pflichtiger Insiderinformation im Interesse weiterer sofortiger Aufklärung zum Schutz des Marktes. 


Grundlegendes zur Ad-hoc-Publizität

Selbstbefreiung von der Ad-hoc-Publizität


KRAMMER JAHN-PRAXISHINWEIS: Sind Insiderinformationen bei Emittenten des Freiverkehrs vor dem 02.07.2016 entstanden und über diesen Zeitpunkt hinaus aktuell, so sind sie unverzüglich zu veröffentlichen! Dadurch, dass der Emittent mit Inkrafttreten des Ersten Finanzmarktnovellierungsgesetzes transparenzpflichtig wird, mussten am 02.07.2016 alle noch substanziellen Insiderinformationen offengelegt werden, sofern keine Selbstbefreiung nach Art 17 Abs. 4 MAR vorgenommen wurde. Der Befreiungsbeschluss ist aus Gründen der Beweislast zur Überprüfung durch die BaFin zu dokumentieren.